Pisa 2022 – wenn die Abgehängten kaum jemandem Sorge bereiten

Wunderbar, könnte man finden. Die neuesten Pisa-Ergebnisse sind recht zufriedenstellend. Im internationalen Vergleich schneiden die Schweizer 15-Jährigen in Mathematik «sehr gut», in den Naturwissenschaften «gut bis sehr gut» und im Lesen «mittelgut bis gut ab» (S. 31).

Alles in Butter? Mitnichten. Denn die Schweiz schneidet in vielen Bereichen schlechter ab als noch 2015 oder 2018. Wir stehen im Ländervergleich einfach besser da, weil die andern sich noch viel ausgeprägter verschlechtert haben. Nimmt man nicht den internationalen Vergleich als Bezugsnorm, sondern die Schweizer Ergebnisse von 2015 und 2018, so zeigt sich: Naturwissenschaften leicht verbessert, Lesen knapp gehalten, Mathematik deutlich schlechter (S. 31).

Wahrlich kein Grund zum Jubeln. Aber Achtung. Selbst die Autor:innen der Studie merken schon an dieser Stelle an: «Trotz dieses im internationalen Vergleich guten Resultates ist zu beachten, dass fast ein Fünftel der Schweizer Schülerinnen und Schüler die von der OECD beschriebenen Mindestkompetenzen in Mathematik nicht erreicht. Im Lesen ist es sogar ein Viertel der Schweizer Schülerinnen und Schüler, das das Mindestniveau nicht erreicht. Zudem schneiden vor allem Schülerinnen und Schüler aus sozial benachteiligten Familien in der Hauptdomäne Mathematik nach wie vor deutlich schlechter ab als andere 15-Jährige.» (S. 31)

Gerade in der Mathematik zeigt sich, was die Pisa-Autor:innen ansprechen, wenn sie ganz am Ende ihres Berichts das Fazit ziehen, dass die Resultate die «Persistenz von Bildungsun-gerechtigkeit sowie deren Akzentuierung» verdeutlichen. Sowohl im Lesen als auch – noch viel ausgeprägter – bei den mathematischen Kompetenzen können die 25 Prozent Schüler:innen aus privilegierten Verhältnissen ihr Niveau von 2015 bzw. 2018 bestätigen.

Veränderung der Mathematikleistungen nach ESCS-Quartil (S. 50, Abb. 3.2.2.)

Der Kommentar dazu fällt deutlich aus: «Zusammengefasst zeigt sich also, dass der Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft der Schülerinnen und Schüler und ihrer Testleistung in Mathematik bei Pisa über alle betrachteten Erhebungsjahre (2003 bis 2022) hinweg relevant ist. Sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler erreichten im Schnitt durchwegs tiefere Pisa-Werte als ihre privilegierteren Mitschülerinnen und Mitschüler. Obwohl die Bildungsgerechtigkeit in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus der Politik gerückt ist (Bütikofer, 2023), hat dieser Zusammenhang nicht abgenommen – der Zusammenhang war im Gegenteil nie so stark wie bei PISA 2022.»

Der Unterschied zwischen dem leistungsstärksten und leistungsschwächsten Quartil beträgt 117 Punkte (wobei 40 Punkte in etwa dem Lernzuwachs eines Schuljahres entsprechen). Im Klartext: Die 25 Prozent 15-Jährigen aus benachteiligten Verhältnissen sind bezüglich ihren Mathematikkompetenzen auf dem Niveau der 6. Klasse. Auch wenn es so nicht ausgewiesen ist, kann man davon ausgehen, dass die Verhältnisse bei den Lesekompetenzen in etwa ähnlich sind.

Mit anderen Worten: Diese Jugendlichen sind abgehängt, sie haben wohl auch abgehängt. Sie sitzen in den Sekundarklassen mit Grundanforderungen, in denen die allgemeine Lernmotivation bescheiden ist, die Erwartungen und Forderungen der Lehrpersonen tief, die Lehrpläne nach unten angepasst – und vor allem die Selbstbilder der Jugendlichen im Keller. Wir sind eh die Looser und haben keine Chance, was sollen wir uns da anstrengen. Das ganze Umfeld strahlt es ja aus: Das schafft ihr nie. Dann wird es wohl so sein.

Wen wundert’s, wenn es bloss 2 Prozent all dieser Schüler:innen in einen Bildungsgang mit höherem Abschluss schaffen (BfS 2016)?

Das Problem ist seit 50 Jahren bekannt, verbessert hat sich praktisch nichts – trotz oberbehördlichen Deklamationen und Beteuerungen. Offenbar im Gegenteil. Mittlerweile hat sogar die Wirtschaft gemerkt, dass die Schweiz so ihre Talente verschleudert und sich Fachkräfte im grossen Stil entgehen lässt (Oliver Wyman 2023).

Bund und die EDK deklarierten am 27. Oktober 2023 in ihrer Medienmitteilung den Leitsatz, dass Bund und Kantone «mit Blick auf die Chancengerechtigkeit» handeln sollen – und lassen diesem Leitsatz acht konkrete bildungspolitische Ziele folgen, von denen keines die Chancengerechtigkeit im Auge hat. Ob sie ihre Ziel-Liste im Wissen um die neuesten Pisa-Resultate einen guten Monat später erweitert hätten? Wir bezweifeln es.

Und so bleibt die «Persistenz der Bildungsungerechtigkeit» bestehen. Das kann und darf nicht sein. Wir bleiben dran – hoffentlich mit vielen andern Partner:innen aus Wirtschaft, Verwaltung, Politik und Bildung, die nun endlich Taten sehen wollen.

Pisa 2022: Jürg Schoch als Experte in der Sendung «10vor10»

Link zur Pisa-Studie