Blickpunkt Programme

Was passiert in unseren Förderprogrammen? Welche Themen stehen an? Welche Veranstaltungen sind geplant? In dieser Rubrik publizieren wir in regelmässigen Abständen Neuigkeiten und Hintergrundinformationen zu den Programmen.

«Wir suchen immer Leuchtturm-Projekte, die wir zum Fliegen bringen»

Die Stiftung Ria & Arthur Dietschweiler unterstützt ab Sommer 2023 für vier Jahre unser Förderprogramm CHANCE KSR Reussbühl Luzern. Wir fragten Stiftungsrätin Viola Dietschweiler nach ihren Beweggründen.

Frau Dietschweiler, Ihre Stiftung besteht seit gut 40 Jahren. Schwerpunkte Ihrer Fördertätigkeit sind Bildung Soziales und Kultur. Wen fördern Sie im Bereich Bildung?
Unser Augenmerk gilt vor allem begabten und hochbegabten Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, wobei wir vielfältige Projekte auf verschiedenen Ebenen unterstützen.

Können Sie ein paar Beispiele geben?
An der Kanti Burggraben St. Gallen förderten wir das International Baccalaureate (IB), ein zweisprachiges Diplom, das zusätzlich zur Matur erworben werden kann. Von Beginn an begleiteten wir das «Ostschweizer Forum für Hochbegabte», das jetzt gar eine eigene Schule eröffnete. Zudem unterstützen wir das «St. Gallen Symposium», eine studentische Initiative zum Generationendialog an der HSG, das Center for Philantrophy Studies (CEPS) in Basel, aber auch die «Zoo-Schule» und das «Fliegende Klassenzimmer», zwei ausserschulische Lernorte am Walter Zoo in Gossau.

Mit der CHANCE KSR unterstützen Sie erstmals ein Projekt für sozial Benachteiligte.
Jein. Wir engagieren uns ja in den Bereichen Bildung und Soziales, das kann man hier nicht so klar trennen.

Wie sind Sie auf die CHANCE KSR aufmerksam geworden?
Durch einen NZZ-Artikel über das Förderprogramm CHANCE KSR und seinen Kick-off. Ich kontaktierte dann Annette Studer, die Rektorin der Kanti Reussbühl, und besuchte einen Nachmittag lang den Förderunterricht in den Coaching-Gruppen. Eine eindrückliche Erfahrung.

Inwiefern?
Ich war in meinem Leben noch nie in Emmenbrücke, das ist eine andere Welt dort, eine Schweiz, die ich bisher nicht kannte. Schon im Bus redete kaum jemand Deutsch, Vieles ist anders. Mein Bericht stiess auch im Stiftungsrat auf Interesse.

Zumal sich Ihre Stiftung auf die «heile» Ostschweiz konzentriert.
Ja, allerdings machen wir Ausnahmen, wenn gute Gründe vorliegen.

Das heisst?
Wir suchen Leuchturm-Projekte, die wir zum Fliegen bringen können. Und Chance KSR ist so ein Projekt, das mich auch ganz persönlich interessiert.

Was beeindruckt Sie denn so sehr?
Die Professionalität. Überspitzt gesagt: Man kann auf dieser Ebene ja viel «Gugus» machen, kleine Projekte hier und da unterstützen… Das ist bei der Chance KSR anders. Vom Motivationsschreiben der Schüler und Schülerinnen über das Mentoring, das Coaching nach dem ZRM bis zur Evaluation durch die PH FHNW – das ganze Projekt ist durchdacht, steht auf einem soliden Fundament.

Sie hatten keine Probleme, Ihren Stiftungsrat zu überzeugen?
Es gab Bedenken. Unser duales Bildungssystem sei doch super, hiess es, es sollten mehr Jugendliche eine Lehre machen, statt ins Gymi zu gehen. Ich machte deutlich, dass Chance KSR begabte, motivierte und sozial benachteiligte Jugendliche fördere, und zwar aus schweizerischem und aus migrantischem Elternhaus. Das hat – neben der Professionalität der Chance KSR – meinen Stiftungsrat überzeugt.

Könnten Sie sich vorstellen, ein ähnliches Projekt in der Ostschweiz zu unterstützen?
Haben wir bereits getan. Wir haben uns bei «Chance – Stiftung für Berufspraxis in der Ostschweiz» engagiert. Falls die Allianz Chance+ ein Förderprogramm in den Kantonen St. Gallen oder Thurgau initiieren würde, dann sind wir sicher offen für ein Engagement.

Der Kanton Aargau unterstreicht seine Vorreiterrolle in Sachen Bildungsgerechtigkeit. Das Förder- und Mentoringprogramm Chagall für talentierte und leistungsbereite Jugendliche aus bescheidenen Verhältnissen expandiert. Neu wird es neben Chagall Baden auch an der Kantonsschule Wohlen angeboten, in Zusammenarbeit mit dem Berufsbildungszentrum Freiamt Lenzburg und den Sekundar- und Bezirksschulen der Region.

Chagall AG ist ein Projekt, das den Start in eine Lehre mit Berufsmaturität oder den Eintritt in eine Mittelschule erleichtern soll. Es beginnt in der 2. Klasse der Bezirks- oder Sekundarschule und endet nach dem ersten Semester der 1. Klasse des Gymnasiums, der Fach-, Wirtschafts- oder Informatikmittelschule oder der Berufslehre mit Berufsmaturität. Im Oktober ist der erste Kurs von Chagall Wohlen gestartet. Wir gratulieren allen Beteiligten und wünschen den Schüler:innen des Pionierkurses viel Erfolg!

Was hat sich bewährt in unserem Programm? Was sollten wir verbessern? Wie beurteilen Schüler:innen, Coaches und Lehrpersonen die einzelnen Elemente des Programms? Diese Fragen haben sich die Verantwortlichen der Chance KSR auch nach dem dritten Jahr in einer Zwischenevaluation gestellt.

In einer internen Runde befragten sie darum neun Klassenlehrpersonen und Coaches. Zudem interviewten Forschende der ZHAW insgesamt 17 Schüler:innen.

Das Resultat? Ein gerüttelt Mass an Steuerungswissen! Ja, die Jugendlichen erwarten, dass das Programm ihre Lerntechniken und -strategien sowie auch ihre Noten verbessert. Ja, die Gruppen- und Einzelcoachings sind zentral für alle Beteiligten. Zu klären ist aber, ob ein Informationsfluss zwischen Klassenlehrperson und Coach hilfreich ist, und falls ja, wie er genau gestaltet werden soll.

Oder auch: Ja, die breite Palette an Unterstützungsangeboten wie betreutes Lernen, Deutsch-Stützkurse oder Mathe-Förderung ist hilfreich. Aber müssen sie für alle jederzeit obligatorisch sein? Sollten die Schüler:innen nicht zusammen mit dem Coach ihr «Menu» situativ und individuell zusammen stellen können?

Schliesslich: Wie können die Kriterien für die Empfehlung und Aufnahme der Jugendlichen ins Programm justiert werden?

Solche Fragen diskutierte das Programmleitungsteam an einem Klausurtag und beschloss entsprechende konzeptionelle und organisatorische Veränderungen. Ganz nach dem Motto, das für jedes Projekt gilt: laufend dazu lernen und gemeinsam weiterentwickeln.

So erging es mir im ersten Jahr als Lerncoachin

Christina Rüdiger von der Chance Winterthur

Wenn man 35 Jahre im Schuldienst tätig war, freut man sich zunächst mal auf die frei zur Verfügung stehende Zeit, die vor einem liegt. Aber gleichzeitig spürt man eine gewisse Wehmut. Es war doch etwas Schönes, immer mit Jugendlichen zusammen zu sein, ihnen etwas beibringen zu können, sich daran beteiligen zu dürfen, die nächste Generation ins Leben einzuführen.
Umso mehr freute es mich, als ich das Angebot bekam, bei der Chance Winterthur mitzuwirken. Von diesem Projekt hatte ich schon gehört und es faszinierte mich. Ich sagte spontan Ja und war gespannt, was mich erwarten würde. Es kamen fünf junge Menschen mit dem Ziel, die Aufnahmeprüfung an die Kantonsschule zu bestehen. In ihrem Rucksack war viel Motivation und der unbedingte Wunsch, die Matura machen zu können, aber auch deutlich spürbare Unsicherheit, ob sie es schaffen würden.

Pünktlich, regelmässig, müde
So sassen wir also jeweils am Mittwochnachmittag drei Stunden zusammen und gingen miteinander die digital zugänglichen Lektionen durch. Ich war für das Fach Deutsch zuständig.
Sie kamen pünktlich, regelmässig und oft recht müde. Aber sie waren von 14 bis 17 Uhr bei der Sache. Drei Stunden können sehr lang sein, vor allem in der Schule. Aber die Zeit verging wie im Flug. Zumindest für mich.
In den Pausen erzählten sie mir, was sie sonst noch alles zu bewältigen hatten. Für sie lief ja der normale Schulbetrieb weiter. Manchmal kam die eine oder der andere etwas schuldbewusst und beichtete mir, dass sie die Hausaufgaben nicht habe erledigen können. Da sei eine Geschichtsprüfung dazwischengekommen. Oder er habe unbedingt noch an einem Vortrag arbeiten müssen. Er habe das nicht so schnell geschafft wie vermutet.

Eigenverantwortlich
Klar, dafür hatte ich grosses Verständnis. Ich übergab ihnen die volle Verantwortung und sagte ihnen immer wieder, dass ich ja die Schulzeit schon hinter mir hätte. Es gehe um sie und ihre Zukunft. Wieviel Zeit sie für die Prüfungsvorbereitung einsetzen würden, überliesse ich ihnen. Eigenverantwortung ist für mich ein hoher Wert. Ich übergab sie ihnen, und ich glaube, das hat sich bewährt.
Bald kamen die ersten Erfolgsmeldungen. «Sie, mein Deutschlehrer hat gesagt, ich habe Fortschritte im Deutsch gemacht.» oder «Im letzten Aufsatz hatte ich eine 5. Das habe ich bis jetzt noch nie geschafft.» Natürlich freute es mich sehr, dass sie die Früchte ihres Einsatzes schon jetzt hin und wieder mit Händen greifen konnten.
Das Schwierigste lag natürlich die ganze Zeit vor ihnen: die Aufnahmeprüfung. Würden sie die schaffen? Einige Wochen vorher kam die Prüfungsangst. Ich fand, das sei zu früh, und empfahl ihnen, sich das für die letzten Tage vorm Termin aufzusparen. Ein bisschen Stressgefühl, das sagte ich ihnen auch, sei durchaus sehr gut. Man ist dann voll präsent und kann das Gelernte besser abrufen.

Erfolgreich!
Dann kam der Tag, um den sich im letzten Schuljahr alles drehte! Bei der Abschlussfeier, die vor der Bekanntgabe der Ergebnisse durchgeführt wurde, waren die meisten vorsichtig optimistisch. Ich denke, mit Recht.
Für einige wenige braucht es einen zweiten Anlauf. Die meisten aber haben es geschafft.
Bleibt mir nur, allen zu gratulieren: den Schülerinnen und Schülern und natürlich dem Projekt «Chance Winterthur».

Mitte Mai hat die Zürcher Regierung dem Kantonsrat beantragt, das Postulat «ChagALL for all» abzuschreiben. Begründung: Zürich mache schon so viel für die Chancengerechtigkeit, weitere Massnahmen seien unnötig. Allianz-Präsident Jürg Schoch analysiert den Antrag des Regierungsrats und erhebt vier fundamentale Vorwürfe.

Die Regierung spart sich eine Bestandesaufnahme: Wie steht es um die Chancengerechtigkeit?
Die Regierung schaut nicht hin, wie es um die systematische Bildungsbenachteiligung im Kanton Zürich steht. Die Antwort würde lauten: schlecht. Der Kanton Zürich spielt nachweislich im Vergleich mit andern Kantonen in der untersten Liga auf den letzten Plätzen (Felouzis und Charmillot, 2017; oder BfS 2021). Und die Bildungsdirektion weiss darum. Ironischerweise hat die Bildungsplanung gerade im Mai die Zusammenfassung einer Analyse der Grundkompetenzen veröffentlicht mit der Leitfrage: «Warum ist der Einfluss der sozialen Herkunft auf das Erreichen der Grundkompetenzen im Kanton Zürich grösser als in anderen Kantonen?»

Die Regierung betreibt keine Ursachenanalyse: Wo entsteht Chancenungerechtigkeit?
Es ist x-fach belegt: Die soziale Herkunft, die Übergänge von der Primar- in die Sekundarstufe I und von der Sek I in die Sek II inkl. Berufsbildung sind wegweisend. Und sie sind mehr Bruch- als Schnittstellen. Systematisch benachteiligende Selektionsverfahren, eine vierteilige Oberstufe – wer es nicht in die Sek A oder das Langgymi schafft, hat verloren (TREE-Analysen, BfS 2021). Sozial entmischte Schulen tragen das ihre dazu bei (Dlabac, 2021). Offenbar will die Regierung die Ausschliessungsmechanismen und – hintergründe gar nicht kennen.

Die Regierung verzichtet auf Wirkungsnachweise: Welche der genannten Massnahmen wirken überhaupt?
Und wie stark? Die Regierung listet viele, meist punktuelle Aktivitäten und Massnahmen (auch von nichtstaatlichen Trägern!) auf, ohne über deren Wirksamkeit auch nur eine Aussage zu machen. Das ist Augenwischerei oder Blindflug. Oder beides.

Die Regierung drückt sich um Transparenz: Welche Projekte werden weiter vom Staat unterstützt?
Nur ein Beispiel: Die Regierung brüstet sich mit ChagALL und erwähnt richtigerweise die finanzielle Unterstützung durch die Bildungsdirektion (richtig wäre: durch den Lotteriefonds über die Bildungsdirektion). Diese Finanzierung läuft aber Ende 2022 aus. Ob sie weitergeführt wird, ist offen.

Wie passiert nun mit dem Postulat? Vermutlich im Herbst wird das Geschäft von der zuständigen Kommission für Bildung und Kultur behandelt, dann im Kantonsrat. Dieser kann es mit einer abweichenden Stellungnahme abschreiben oder vom Regierungsrat einen Ergänzungsbericht verlangen. Mit der Unterstützung von SP, Grünen, GLP, EVP und AL könnte dies gelingen. Wie auch immer: Ohne heftigen Gegenwind und mediale Aufmerksamkeit darf das Postulat nicht abgeschrieben werden!

«Wir bauen eine Brücke von der Sek zu den Mittelschulen und zur Lehre mit Berufsmatura»

Das Aargauer Förderprogramm zur Chancengerechtigkeit durch Arbeit an der Lernlaufbahn «Chagall» gilt als richtungsweisend und vorbildlich. Rolf Häner, Rektor der Berufsfachschule Baden, erklärt warum.

 

Was sind die Gründe für die BBB und für Sie selbst, sich für Chancengerechtigkeit einzusetzen?
Ein wichtiger Grund ist sicher unsere Gesamtstrategie. Es geht ja sehr vieles Richtung personalisiertes Lernen. Wir sehen heute in den Lernenden Individuen mit verschieden grossen Rucksäcken. Das mündet in chancengerechtes Lernen: Wir wollen allen Lernenden gerecht werden, sie individuell fördern und ihnen zielgerichtet eine Perspektive aufzeigen, das ist unser Grundanspruch.

Engagement für Chancengerechtigkeit beginnt also mit der Anerkennung von Diversität?
Ja, es kommen höchst unterschiedliche junge Persönlichkeiten zu uns. Ein konkretes Beispiel ist Bring Your Own Device (BYOD). Ob Attest-Lernende oder Berufsmaturanden – alle haben ein eigenes Gerät. Nun haben wir aber bemerkt, dass einzelne Lernende mit Geräten quasi frisch vom Laden und sehr wenigen IT-Kompetenzen zu uns kommen. Darum machen wir ab diesem Jahr in der letzten Sommerferienwoche einen Einführungstag, bei dem es nur darum geht, die Geräte in Gang zu bringen. Dieses kleine Beispiel ist für mich Ausdruck von Chancengerechtigkeit: Dass wir vorhandene Bedürfnisse ernst nehmen.

Diese wurzeln aber nicht zuletzt in der Herkunft der Jugendlichen.
Da sieht man an Elternabenden: Die BM-Klassen sind sehr gut besucht von Eltern, bei den Attest-Klassen kommt teilweise vielleicht der Berufsbildner oder die Berufsbildnerin des Lehrbetriebes. Der sozioökonomische Hintergrund ist massgeblich für die Schullaufbahn von Jugendlichen, dieses Bewusstsein sollte noch mehr bei vielen Stakeholdern im Bildungssystem einfliessen.

Zum Beispiel im Kanton Zürich, dessen Regierungsrat ein Postulat zur Förderung der Chancengerechtigkeit ablehnt mit der Begründung, man habe bereits genug getan, mehr sei nicht nörig.
Das finde ich schade. In Zürich gibt es seit gut zehn Jahren das erfolgreiche Förderprogramm ChagALL. Ein Programm, welches das vorhin erwähnte Bewusstsein schärft und für zahlreiche junge Leute ein für Ihre Bildungskarriere wichtiges Sprungbrett war.

So wie im Kanton Aargau.
Ja, die Kanti Baden hat die Chance erkannt, dass man mit dem Engagement für Chancengerechtigkeit ein Zeichen setzen kann. Unterstützt vom Regierungsrat und vom Bildungsamt haben wir es gemeinsam geschafft, dass Sekundar-, Berufsfach- und Kantonsschulen im Projekt Chagall AG zusammenarbeiten. Wir zeigen: Chancengerechtigkeit für Jugendliche ist uns wichtig.

Nicht wenige Leute bezeichnen das Aargauer Engagement als vorbildlich und richtungsweisend. Was ist das Spezielle daran?
Das Bewusstsein, gemeinsam etwas tun zu müssen. Deshalb ist Chagall AG als Initiative zwischen den Bezirks- und Sekundarschulen Spreitenbach, Wettingen und Baden sowie der Berufsfachschule und der Kantonsschule Baden konzipiert. Es ist kein aussschliesslich gymnasiales Förderprogramm, viele Absolvent:innen machen ein KV mit Berufsmatura oder eine technische Lehre mit Berufsmatura. Wir bauen eine Brücke von der Sek zu den Mittelschulen und zur Lehre mit Berufsmatura.

Welchen Nutzen ziehen die Schulleitungen aus dieser Kooperation?
Vor allem punkto Vernetzung, das ist mit sehr wichtig. Wir entwickeln Verständnis füreinander, es findet ein informeller, stufenübergreifender Austausch, der extrem befruchtend ist. Wenn ich mit meinen Kollegen von der Kanti Baden oder von der Schule Spreitenbach über das Projekt diskutiere, lerne ich stets etwas dazu. Das sagen übrigens auch die Lehrpersonen, die im Rahmen von Chagall AG unterrichten.

Wie eigentlich entstand diese Zusammenarbeit der verschiedenen Schulen?
Es war ein Bottom-up-Projekt. Am Anfang stand die Initiative von Daniel Franz und Roger Stiel, die das Bedürfnis nach gerechten Berufschancen für Jugendliche erkannten. Sie bauten Chagall AG auf und trieben es voran. Dann kam die Berufsbildung hinzu. Als Daniel Franz und ich uns zum ersten Mal trafen, waren wir beide überzeugt, dass nicht jeder in die Kanti muss, begabte Jugendliche können auch  einen Beruf erlernen und die Berufsmatura machen. Das Verständnis, dass man zusammenarbeitet, ist im Aargau stark ausgeprägt.

Wer finanziert eigentlich Chagall AG?
Der Kanton über den Swisslos-Fonds, aus Mitteln des breit abgestützten Fonds «ChagALL Initiative», aus den Budgets der beteiligten Schulen und aus hohen Eigenleistungen der Schulleitungen und der Lehrpersonen aus den beteiligten Schulen. Ausserdem beabsichtigt der Regierungsrat des Kanton Aargau, unser Projekt in den kantonalen Finanzierungsplan aufzunehmen.

Gab oder gibt es eigentlich nie Skepsis, Widerstand gar, zum Beispiel aus der Politik?
Nicht dass ich wüsste, im Gegenteil, das Bedürfnis nach chancengerechter Bildung ist im Kanton Aargau anerkannt.

Die PH FHNW evaluiert Chagall AG seit Beginn, jetzt liegt ein Zwischenbericht vor. Welches sind die wichtigsten Ergebnisse?
Das Programm ist eine Erfolgsgeschichte. Es hat sich auf hohem Niveau etabliert und wird von einer konstanten Anzahl Schüler:innen nachgefragt. Chagall AG ist auf bestem Weg, so dass es demnächst auch in Wohlen und Aarau angeboten wird.

Blicken wir abschliessend in die Glaskugel aufs Jahr 2032, wie stehts um die Chancengerechtigkeit im Kanton Aargau, in der Schweiz?
Ich sehe nur positive Entwicklungen. Das Bewusstsein ist vorhanden, man muss ihm nur etwas Zeit geben. Es wächst eine neue Generation von Schulleitungen heran, die gewillt ist, noch vernetzter unterwegs zu sein. Dank des kompetenz- und handlungsorientierten Unterrichts schaut man nicht mehr darauf, was Schüler:innen für Noten mitbringen, sondern was sie im Rucksack haben. Man wird mehr auf die individuellen Talente, Begabungen und Potentiale eingehen – das alles eröffnet der Förderung von Chancengerechtigkeit vielversprechende Perspektiven.

Am Anfang stand ein knapper Entscheid. Vor zwei Jahren, mitten in der Pandemie, erklärte sich der Zürcher Regierungsrat bereit, die in einer Motion von Markus Späth (SP), Jörg Mäder (GLP) und Esther Guyer (Grüne) geforderte Ausweitung des Programms «ChagALL for all» auf den ganzen Kanton als Postulat entgegenzunehmen. SVP, FDP und CVP hielten dagegen – ohne Erfolg: Der Rat überwies den Vorstoss mit 86 zu 77 Stimmen.

Jetzt liegt der Entscheid des Regierungsrats vor. Er empfiehlt dem Kantonsrat, das Postulat «als erledigt abzuschreiben». Der Regierungsrat begründet seinen Entscheid auf 11 Seiten, indem er sämtliche bestehenden Projekte auflistet, die angeblich der Förderung der Chancengerechtigkeit dienen. Fazit: Der Kanton Zürich mache bereits genug, noch mehr sei unnötig! Kein Wort verliert der Regierungsrat indes darüber, ob diese Projekte auch wirklich etwas bewirken. Das erstaunt umso mehr, als Forschungsergebnisse dem Kanton Zürich das Schlusslicht in Sachen Chancengerechtigkeit zuweisen.

Bevor der Kantonsrat das Geschäft abschliessend behandelt, gelangt es in die zuständige Kommission. Wann genau, ist noch unbestimmt. Die Zeit gilt es zu nutzen, um mit vereinten Kräften geeignete Massnahmen zu ergreifen, mit denen die Abschreibung des Postulats verhindert werden kann.

Antrag des Zürcher Regierungsrats

Professor Albert Düggeli, der zusammen mit Dr. Alma Kassis unser Förderprogramm ChaBâle an der Wirtschaftsmittelschule Basel begleitet und wissenschaftlich evaluiert, ist sehr erfreut: «Von Januar bis Juni 2021 konnten wir bei unseren Schüler:innen statistisch signifikante Verbesserungen der Deutschnote und des Fähigkeitsselbstkonzepts in Mathematik feststellen. Das ist eine grosse Freude und ein grosser Lohn für alle Beteiligten.»

So lautet das Fazit des ersten, noch unveröffentlichten Zwischenberichts der Prozess-Evaluation, den Düggeli und Kassis zu Handen des ChagALL Initiative Fonds vorlegen. Dieser Fonds hat ChaBâle in den ersten Jahren mitfinanziert – und damit die nun gewonnenen Erkenntnisse überhaupt erst ermöglicht.

Unter den schwierigen Corona-Bedingungen wurde das ChaBâle-Konzept in den letzten 18 Monaten laufend angepasst und verbessert. Das war nötig, da sich die Noten und auch die fachlichen Fähigkeits-Selbstkonzepte der Jugendlichen während dem Lockdown (Januar 2020 bis Januar 2021) tendenziell verschlechterten.

«Unsere Evaluation zeigt auf, dass man Leistungsmotivation und Notenentwicklung der Jugendlichen selbst bei erhöhtem Dropout-Risiko reduzieren kann», sagt Düggeli. Solche Wege zu erkennen sei für die Handlungspraxis, die Chancenungleichheit zu reduzieren versucht, sehr bedeutsam. Und die Prozesse gilt es nun noch besser zu verstehen.

Dazu hilft der qualitative Teil der Evaluation. Er ermöglicht differenzierende Einblicke in die Wirkprozesse von ChaBâle. So nennen die Schüler:innen beispielsweise, dass sie den persönlichen Rahmen sehr schätzen, in dem sie mit Lehrpersonen ihre Fragen direkt besprechen können. Darüber hinaus betonen sie, dass sie von der gemeinsamen Arbeit in vertrauten Kleingruppen enorm profitieren.

ChaBâle wirkt, könnte man sagen, allerdings gibt es noch viel zu tun. Beispielsweise ist der gesamte Notendurchschnitt der Jugendlichen im ersten Halbjahr 2021 zwar leicht gestiegen, und sechs der sieben ins Provisorium versetzten Schüler:innen gelang es, dieses wieder zu verlassen. Hingegen liess sich in den Fächern Französisch sowie Wirtschaft & Recht noch kein Aufwärtstrend erkennen.

Das gilt ebenso für die Selbstwirksamkeits-Überzeugung, eine wichtige Voraussetzung für den schulischen Erfolg. Diese hat sich von Januar bis Juni 2021 zwar verbessert, allerdings in überschaubarem Ausmass.

Besonders verblüfft ist Düggeli über die Beobachtung, «dass die Verbesserung der Deutschnote eher mit der positiven Entwicklung der jungen Männer, die Verbesserung des Selbstkonzepts Mathematik hingegen mit der positiven Entwicklung der jungen Frauen einhergeht».

Dies sei jedoch erst eine Tendenz, die er zusammen mit Kassis im weiteren Verlauf der Evaluation genauer untersuchen wolle. Man darf also gespannt sein auf den nächsten Zwischenbericht von ChaBâle.

Die Weichen werden früh und definitiv gestellt. Wer es nach der 6. Klasse (nach neuer Zählung: dem 8. Schuljahr) «nur» in eine Sekundarklasse mit Grundansprüchen (Sek B, C, Real etc.) schafft, hat kaum mehr Aussichten auf höhere schulische Bildung.

Das Bundesamt für Statistik zeigt die Zahlen. Von 22’164 Schüler/-innen in der 3. Oberstufe (11. Schuljahr) schaffen es gerade Mal 2% Prozent (443) in eine allgemeinbildende Ausbildung auf der Sekundarstufe II, also bspw. in eine Informatikmittelschule, eine Fachmittelschule oder ein Kurzgymnasium. Die Hälfte (1%) braucht dazu ein Zwischenjahr.

Die theoretische «Durchlässigkeit» unserer stark gegliederten Sekundarstufe I funktioniert in der Praxis vor allem «nach unten». Einmal getroffene «Bildungsentscheidungen» können kaum korrigiert oder angepasst werden. Thomas Meyer, Co-Leiter der TREE-Längsschnitt­studie an der Universität Bern, folgert aus deren Daten: «Davon betroffen sind vor allem Schülerinnen und Schüler aus Sek I-Schulzügen, die nur so genannten «Grundan­forde­rungen» genügen. Auch wenn sie gute Leistungen erbringen, sind sie dem «Stigmatisierungs­effekt» dieser Schulzüge ausgesetzt und können ihr Begabungs-Potenzial nicht ausschöpfen. Insofern wirft die Selektivität bzw. Gliederung der Sekundarstufe I lange Schatten auf die weitere Ausbildungs- und Erwerbslaufbahn.»**

*Bundesamt für Statistik (2016): Längsschnittanalysen im Bildungsbereich. Der Übergang am Ende der obligatorischen Schule. Ausgabe 2016, Seite 6.

** Referat Veranstaltung VSoS, Zürich, 2. November 2021