«Die Gefahr besteht, dass KI die Chancenungerechtigkeit verstärkt»

Interview mit Michel Schlatter, ICT-Lehrperson und «Mister KI» der Berufsfachschule Baden (BBB)

KI erobert seit geraumer Zeit die Schulzimmer, bloss: mit welchen Folgen für die Chancengerechtigkeit? Das wollten wir vom Michel Schlatter wissen.
Schlatter lehrt Informatik an der Berufsfachschule Baden (BBB). Er ist ein erfahrener Praktiker und zählt zu den Pionier:innen der schulischen Auseinandersetzung mit Künstlicher Intelligenz. Zusammen mit einem Kollegen erkannte er frühzeitig deren Bedeutung und richtete im Auftrag der Schulleitung das «KI Lab» ein, das sich zum zentralen KI-Steuerungsinstrument der BBB entwickelt hat.

KI spielt zunehmend eine zentrale Rolle in der Schule. Welche Haltung nimmt die BBB grundsätzlich zu KI ein?
Die Berufsfachschule BBB hat die Aktualität von KI und dessen Einfluss und Möglichkeiten auf die Tätigkeit ihrer Lehrpersonen erkannt. Generative KI schafft für das Lernen und Lehren neue und nachhaltigere Möglichkeiten und verhilft unseren Lernenden zu Kompetenzen, die für die Herausforderungen der Arbeitswelt ebenso relevant sind wie für die Bewältigung ausserberuflicher Situationen.

Gibt es auch kritische Stimmen?
Die gab es zu Beginn von einigen Stellen. Jedoch ist den Lehrpersonen auch bewusst, dass wir Berufslernende ausbilden und dass KI in vielen, vor allem digitalen Berufen, eine immer grössere Rolle spielen wird.

Wie begegnen Sie solch kritischen Stimmen?
Wir haben Leitlinien zum Umgang mit KI verfasst, die alle für uns relevanten Rahmenbedingungen festhalten. Ausserdem haben ein Kollege und ich vor zwei Jahren im Auftrag der Schulleitung das «KI-Lab» aufgebaut. Es ist das zentrale Instrument unserer Anstrengungen, KI verantwortungsvoll in den Unterricht zu integrieren.

Was genau passiert im «KI-Lab»?
Das «KI-Lab» nimmt wichtige Fragen rund um KI auf und entwickelt laufend Ideen zur aktiven Förderung von KI unter anderem in den Blended Learning Settings, zur Schulung von Lehrpersonen oder zum sinnvollen fächerspezifischen Einsatz. Dabei achten wir darauf, dass Chancengerechtigkeit für Lehrpersonen und Lernende gewährleistet wird. Und wir bemühen uns um einen pädagogisch verantwortungsvollen Einsatz von KI, damit unsere Lernenden befähigt werden, kritisch mit KI umzugehen. KI sollen sie als Werkzeug fürs Lernen verstehen, nicht als Ersatz für eigenes Denken.

Das heisst konkret?
Wir schulen Lehrpersonen und Lernende im Umgang mit KI, damit sie eine hohe Kompetenz im Bereich der KI erhalten. Wir entwickeln Tools und organisieren Workshops für Lehrpersonen, um sie mit dem KI-Einsatz, den Risiken und Chancen vertraut zu machen. Wir optimieren laufend unsere selbst entwickelte Lernplattform «Learn-With.AI». Derzeit testen wir erste Varianten von KI-Lerncoaches, meines Erachtens eine grosse Chance für das Selbstlernen.

Sie unterrichten Informatik. Wie setzen Sie KI im Unterricht ein?
KI spielt in meinem Unterricht eine wichtige Rolle. Wenn ich als Programmierer eine neue Applikation mit KI schreibe, bin ich ungefähr 20 Prozent schneller. Deshalb unterstütze ich den Einsatz von KI aktiv, indem ich die Lernenden zum Beispiel auffordere, einen Programmcode gemeinsam mit der KI zu implementieren oder Code von KI überprüfen zu lassen. Ich weise aber auch immer wieder darauf hin, dass die Resultate von der KI kritisch hinterfragt werden müssen. Die Verantwortung für eine funktionstüchtige Software hat momentan immer noch der Mensch und nicht die KI. Darauf müssen wir die Lernenden sensibilisieren.

In anderen Berufen dürfte der Einsatz von KI schwieriger sein…
… man muss natürlich unterscheiden zwischen digitalen Berufen wie Programmierung oder Consulting und nicht digitalen wie Koch oder Metallbauer. In digitalen Berufen wie Programmierung oder Consulting kann KI in den Haupttätigkeiten eingesetzt werden, etwa um erste Lösungsansätze zu generieren oder als Sparrings- und Brainstorming-Partner zu dienen. In nicht-digitalen Berufen wie Koch oder Metallbauer gestaltet sich der Einsatz von KI schwieriger. Zwar kann ein Koch beispielsweise mit Hilfe einer generativen KI neue Rezeptideen entwickeln, doch bleibt der Einsatz oft auf Nebentätigkeiten beschränkt. Hier könnten in Zukunft Roboter bestimmte Aufgaben übernehmen.

Welche Chancen eröffnen sich für Lehrpersonen durch den Einsatz von KI?
KI richtig eingesetzt, hilft ihnen Zeit zu sparen, die sie z.B. für die individuelle Betreuung von Lernenden einsetzen können. Ausserdem kann KI Lehr- und Lernprozesse bereichern, Lernmethoden personalisieren sowie Lehrpläne und Lernmaterialien individualisieren, das heisst dem Niveau oder der Altersstufe anpassen.

Lehr- und Lernprozesse bereichern: Wie geht das in Ihrem Fach Informatik?
Man könnte z.B. einen auf das Thema spezifisch konfigurierten KI-Lerncoach zur Verfügung stellen, welcher den Lernenden 24/7 zur Verfügung steht und ein interaktives und dynamisches Lernumfeld schafft. Der Lerncoach könnte auf die Fragen der Lernenden eingehen, ihre Codefehler korrigieren und Erklärungen anbieten, die dem individuellen Lernniveau angepasst sind. Wenn die Lehrperson einen Prompt, d.h. eine Anweisung für den KI-Lerncoach schreibt, ist es wichtig, ihr eine Rolle zu geben: «Du bist Lehrperson im Fach XY und schulst meine Lernenden problem based. Du entwickelst also ein Szenario und fragst nicht nur Wissen ab.» Die Lehrperson kann also das Verhalten respektive den Unterrichtsstil des Lerncoaches mit einfachen Worten definieren. Der Wert eines vorkonfigurierten Lerncoaches kann sehr hoch sein, da er den Lernenden praktisch eine 1:1-Betreuung im Unterricht bietet—ähnlich wie eine persönliche Assistenzlehrperson, die jedem Lernenden individuell zur Seite steht.

Welche Chancen eröffnen sich den Lernenden durch den Einsatz von KI?
Adaptive KI-Lernsysteme, die sich dem Lerntempo, Lernbedürfnis und Lernniveau anpassen, optimieren individualisiertes und effizientes Lernen, weil sie auf Stärken und Schwächen der einzelnen Schüler und Schülerinnen eingehen können. Weiterhin stehen die KI-Modelle 24/7 zur Verfügung und können auf Fragen spezifisch antworten, erste Lösungsentwürfe liefern oder wie vorhin genannt als Brainstorming und Sparringpartner eingesetzt werden.

Bitte geben Sie uns doch ein Beispiel.
Wenn Lernende mit KI einen ersten Lösungsentwurf erstellen und diesen dann beurteilen müssen, kommen sie auf eine komplexere Taxonomiestufe. Vielleicht waren sie vorher auf der Stufe Anwenden/Analysieren, jetzt müssen sie den Output einer KI bewerten. Das fordert und fördert Lernende. Sie können den Lösungsentwurf gemeinsam mit der KI iterativ verbessern und so schneller und bessere Ergebnisse liefern. Allerdings steht ausser Frage, dass wirklich gute Ergebnisse nur mit Knowhow im Umgang mit KI und den besten KI-Modellen möglich sind.

Die sind aber teuer. Damit stellt sich die Frage, ob KI zu mehr Chancengerechtigkeit beiträgt, wie gerne behauptet wird. Was sagen Sie?
Man muss differenzieren, ich kann nicht klar nein oder ja sagen. Sicher ist: Lernende unterscheiden sich durch ihren sozialen und finanziellen Hintergrund. Daraus ergeben sich Unterschiede im materiellen und physischen Zugang zu digitalen Medien und KI-Anwendungen zum Lernen. Das kann dazu beitragen, dass sich die Schere zwischen privilegierten und benachteiligten Schülerinnen und Schülern weiter öffnet. Einige Lernende können sich das beste KI-Modell leisten, andere nicht. Manche nutzen die KI geschickt, während es anderen schwerfällt.

Sind die Unterschiede denn so gross?
Wir haben bei einigen Prüfungen «open Internet», das heisst, bei gewissen Prüfungen darf man das ganze Internet benutzen. Die Lernenden, die ein Pro-Abonnement eines KI-Anbieters zur Verfügung haben, haben priorisierten Zugang bei Spitzenzeiten und können auf die besten Modelle auf dem Markt zurückgreifen. Dadurch erzielen sie tendenziell bessere Resultate als solche, die nur die gratis Version nutzen können. Des Weiteren tendieren Lernende, die ein Pro-Abonnement haben, auch erweiterte Funktionen der KI zu nutzen, verwenden die KI häufiger und werden dadurch kompetenter in der Verwendung und so könnte allenfalls die Schere immer weiter aufgehen.

Der Einsatz von KI verstärkt also die bestehende Chancenungerechtigkeit?
Die Gefahr besteht. Sinnvoller Umgang mit KI beruht auf Voraussetzungen, die vielen Lernenden fehlen, hohe Nutzungsmotivation etwa oder Erfahrung und Kompetenz im Umgang mit digitalen Medien. Für schwächere Lernende oder solche mit Sprachproblemen ist es schwierig, gute Prompts zu schreiben und KI unterstützend für ihren Lernprozess einzusetzen. Verschärfend kommt hinzu, dass der effektive Einsatz von KI das kognitive Anspruchsniveau erhöhen kann, wiederum zum Nachteil leistungsschwacher Lernender. Ungleicher Zugang zu KI-Spitzenmodellen kann ebenfalls zur Chancenungerechtigkeit beitragen. Hier können wir als Schule Unterstützung bieten, indem wir uns den leistungsschwächeren Lernenden mit individualisierten Lernsettings zur Seite stehen – ohne KI.

Folglich fällt der Schule die entscheidende Rolle zu, ob KI zu mehr oder weniger Chancengerechtigkeit führt.
Ja, die Schule kann solche Unterschiede zumindest teilweise ausgleichen, sofern sie die richtigen Massnahmen ergreift. Wir haben uns für einen Ansatz entschieden, der auf der Schulung von Lehrpersonen basiert. Diese geben ihr Wissen über den fächerspezifischen Einsatz, die Chancen und Risiken von KI an die Lernenden weiter. Unsere Lehrpersonen haben Zugriff auf die Lernplattform „Learn-With.AI“, die diverse KI-Modelle und Tools bietet, darunter automatisierte Quiz-Erstellung mit Auswertung, anpassbare Lerncoaches und vieles mehr. Ausserdem wird durch Learn-With.AI eine Demokratisierung des Zugangs zu KI-Spitzenmodell erreicht, da diese für alle Nutzende zugänglich sind. Durch die Einführung dieses KI-Tools konnten wir den Einsatz von Künstlicher Intelligenz aktiv fördern, aufzeigen was heute bereits möglich ist und die Motivation der Lehrpersonen steigern, sich mit dieser Technologie auseinanderzusetzen. Für mich ist klar: Schulen müssen aktiv werden, denn generative KI bietet viele Chancen, aber auch Risiken, die es zu erkennen gilt.