Praxistipp: «Das Lerncoaching hat uns den Horizont geöffnet»

Von Christina Ruloff und Julia Streicher

Christina Ruloff und Julia Streicher stehen im 3. Semester ihrer Ausbildung an der PH FHNW zur Lehrerin auf Sekundarstufe II. Dabei lernten sie das Förderprogramm ChagALL am Gymnasium Unterstrass kennen und absolvierten mit einer Schülerin ein Fachcoaching. Im Interview schildern sie, wie es ihnen dort erging.

Wie wird Chancengerechtigkeit in eurem Studium behandelt?
Julia: Das Thema wird im Studienbereich Erziehungswissenschaften thematisiert. Dort gibt es ein Seminar «Kultur und Gesellschaft», wo man sich z.B. mit sozialer Selektion beschäftigt, hauptsächlich mit unterschiedlichen Theorien. Darüber hinaus können wir den Wahlkurs zur Chancengerechtigkeit besuchen.

Ohne diesen Wahlkurs würde Chancengerechtigkeit bloss theoretisch behandelt?
Christina: Ja, im Seminar «Kultur und Gesellschaft» sitzen wir in einem Raum, lesen Texte und diskutieren. Alles bleibt sehr abstrakt, theoretisch. Deshalb war der Wahlkurs so wichtig: Wir wurden mit der Realität konfrontiert.

Wählten viele Kolleg:innen den Wahlkurs?
Christina: Eine Minderheit. Das heisst aber nicht, dass sie kein Interesse haben. Es ist ein Blockseminar, man muss ganze Tage frei haben, das ist vielen nicht möglich.

Wie ist der Kurs aufgebaut?
Julia: Er umfasst fünf Blocktage, während denen wir theoretisch ins Thema eingeführt wurden, über Chancengerechtigkeit diskutierten – und uns schliesslich aufs Lerncoaching vorbereiteten, bei dem wir eine Schülerin eine Stunde lang betreuten.

Wie lief das genau ab?
Julia: Es gab einen Einführungstag, an dem uns das Projekt ChagALL Zürich vorgestellt und darüber diskutiert wurde, wie es um die Chancengerechtigkeit in der Schweiz steht. An einem zweiten Tag lernten wir, was Lerncoaching ausmacht und wie man es vorbereitet. In Zweier- oder Dreiergruppen bekamen wir schliesslich eine Schülerin oder einen Schüler zugeteilt, die wir anschliessend kontaktierten.

Eure Schülerin, wer war sie?
Julia: Eine junge Libanesin, die seit zwei Jahren in der Schweiz lebt. Im ersten Jahr besuchte sie einen speziellen Förderkurs für Deutsch, im zweiten bestand sie die Aufnahmeprüfung ChagALL Zürich am Gymnasium Unterstrass, wo sie aktuell zur Schule geht.

Zurück zum Coaching.
Julia: Im Gespräch mit unserer Schülerin klärten wir ab, welche Fragen und Probleme sie mit uns besprechen möchte, und zwar im Fach Geschichte. Christina und ich haben dann gemeinsam überlegt, wie wir ihr Anliegen angehen wollen. Am dritten Tag reiste der ganze Kurs nach Zürich ans Gymi Unterstrass, um das Lerncoaching durchzuführen.

War das euer Reality-Check-Tag?
Julia: Kann man so sagen. Am Vormittag durften wir die Schüler:innen bei ihrer individuellen Lernzeit mit Unterstützung beobachten, ein spezielles Setting für uns Zuschauer:innen. Du kommst in einen stillen Raum, in dem Jugendliche lernen wollen und möchtest sehen, wie das läuft. Es war etwas unangenehm für die Jugendlichen wie auch für uns.

Und wie lief das Lerncoaching mit eurer Schüler:in ab?
Julia: Das übernahm Christina am Nachmittag. Sie besprach mit ihr die Fragen zur Geschichte, während ich alles aufzeichnete und beobachtete, um Christina danach ein Feedback zu geben. Das eigentliche Coaching dauerte eine Stunde.

Welche Fragen und Probleme hatte eure Schülerin?
Christina: Sie sagte mir im Vorgespräch, dass sie Mühe habe im Geschichtsunterricht. Sie schickte mir eine alte Prüfung, damit ich ein Bild bekam, wo ihre Hürden liegen. Aber als wir sie trafen, wollte sie konkret etwas über die Reformation lernen, als Vorbereitung auf ihre nächste Prüfung. Nun gab es ein Problem: Die Texte in ihrem Schulbuch, das ich vorgängig studiert hatte, waren sehr komplex, vermutlich unverständlich für die Schülerin.

Deine Reaktion?
Christina: Wir haben gemeinsam im Schulbuch gelesen, damit ich herausfand, wie gut ihr Leseverständnis war. Meine Befürchtungen bestätigten sich: Wir sind Satz für Satz durchgegangen, und sie verstand wegen ihren Deutschdefiziten fast nichts. Ausserdem fehlte ihr das kulturelle Bezugssystem, um einen Text zum Thema Reformation zu verstehen.

Konntest du ihr helfen?
Christina: Ich habe es mit einem Schema versucht, wer war Luther, was sind Kardinäle, wer machte was. Um so ein paar Bezüge herzustellen, soweit das möglich war in der kurzen Zeit.
Julia: Schwierig war auch, dass die Schülerin eine ganz andere Methodik gewöhnt war. Die Sek hatte sie im Libanon besucht, wo die Lehrpersonen vor allem Geschichten erzählen. Der hiesige Unterricht – Texte lesen, analysieren und interpretieren – war völlig neu für sie.
Christina: Aber sie ist eine sehr interessierte, engagierte und clevere junge Frau, wann immer sie Fragen stellte, waren es gute, wichtige Fragen.

Zum Beispiel?
Christina: Luther war ja gegen das Zölibat. Ich erklärte ihr, was das Zölibat ist. Sie fragte: «Priester dürfen nicht heiraten, warum eigentlich?» Klasse Frage, aber eben: Reformation ist für sie völlig irrelevant, sie muss ihr Deutsch verbessern. Für die zwei Jahre, die sie hier ist, sind ihre Deutschkenntnisse erstaunlich, aber sie reichen kaum, um in einer Regelklasse zu bestehen.

Wie reagierte die Schülerin auf euch?
Julia: Sie war am Anfang schüchtern, aber sehr motiviert. Je länger das Gespräch dauerte, desto eher wagte sie es, uns Fragen zu stellen, z.B. warum wir dieses Coaching machen.
Christina: Am Anfang dachte sie, es sei schlimm, wenn sie Fragen stellt. Ganz nach der Devise: Je weniger ich frage, desto weniger merken die Leute, was ich nicht verstehe. Mit der Zeit ist es uns aber gelungen, eine Kultur des Fragens zu entwickeln. Sie realisierte, dass wir Fragen etwas Positives finden und wir sie dazu ermutigten. Das war sehr wichtig, denn ohne zu fragen, kannst du nichts erfahren – ich hoffe, das konnte sie von uns mitnehmen.

Was könnte euer Coaching sonst noch bewirkt haben?
Julia: Wir konnten ihr erklären, dass wir auch noch Lernende sind, das gab eine Art gemeinsame Basis. Doch sonst war die Zeit einfach zu kurz, um einen wirklichen Impact zu entwickeln, das haben wir der Kursleitung auch als Feedback gegeben. Es wäre gut, wenn der Kontakt künftig länger und intensiver wäre.

Wenn ihr Bilanz zieht, was war gut am Kurs, was weniger?
Julia: Die Erfahrung für mich als angehende Lehrperson war das Positivste, die Probleme solcher Jugendlicher in der Praxis erlebt zu haben. Für uns war der Ertrag vermutlich grösser als für die Schülerin. Super ist sicher, dass jede und jeder bei ChagALL einen ruhigen Lernort vorfindet und auch einen Zufluchtsort, wo man immer Hilfe erhält. Ich würde den Coachingteil ausweiten, den Kontakt zur Schülerin über längere Zeit herstellen, um die Beziehung vertiefen. Was unsere Ausbildung betrifft: Es braucht mehr Wissen und gezielte Strategien, wie man auf solche Schülerinnen zugeht. Vielleicht sollten Lehrpersonen nicht allein zuständig sein, um ihnen zu helfen. Vielleicht wäre es gut, auch Gleichaltrige mit Erfahrung als Coaches einzusetzen, die im Sinne von Peer Groups Unterstützung leisten.

Welche Bilanz ziehst du, Christina?
Christina: Fast dieselbe wie Julia. Ich glaube, wir haben mehr profitiert, aber ich würde nicht unterschätzen, was die Schülerin mitnahm. Dass zwei junge Frauen sich intensiv um sie bemühten und ihr Mut machten, das hat ihr schon was gegeben. Ich habe ihr erzählt, dass ich an der Uni versucht habe, Arabisch zu lernen und krachend gescheitert bin. So konnte sie einordnen, welch grosse Leistung sie beim Deutschlernen erbringt. Aber mir ist auch klar: Diese junge Frau braucht dringend intensive Hilfe, so wird es schwierig für sie.

Was würdest du konkret tun?
Christina: Ich habe selbst sehr viel Nachhilfe gegeben, und ich weiss, dass sie funktioniert. Unserer Schülerin würde es sicher helfen, wenn jede Woche eine Bezugsperson mit ihr zusammensässe, Fragen klären und intensiv Deutsch üben würde. Das müsste eine Person sein, die ihr auf Augenhöhe begegnet und grosses Engagement für sie hat.

Hat der Wahlkurs euer Verhältnis zur Chancengerechtigkeit verändert?
Julia: Ich würde ihn jeder angehenden Lehrperson empfehlen. Ich bin für das Thema sensibilisiert worden, als zukünftige Lehrerin möchte ich mich unbedingt in diesem Bereich engagieren, sei es in der Freizeit, als Lehrperson oder bildungspolitisch.
Christina: Der Kurs hat mir und hoffentlich allen Teilnehmenden den Horizont geöffnet. Wir verbringen in der Ausbildung viel Zeit damit, in geschlossenen Räumen viele Texte zu lesen, aber erst wenn du rausgehst in die reale Welt, siehst du, wie sie funktioniert oder auch nicht funktioniert – und was es zu tun gäbe.

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